Den „Fluch der ersten Zahl“ vermeiden

Gebäude mit hohem „Reizfaktor“: die heutige Elbphilharmonie („Elphi“). Die Kosten liefen ebenso aus dem Ruder wie der Zeitplan. Es gab reichlich Ärger. Doch heute mag Hamburg die Elphi nicht mehr missen, Foto: Arndt
Deutschland, deine Infrastrukturgroßprojekte. Ein Thema für sich. Kann Deutschland überhaupt noch „Großprojekt“? Gedanken dazu und konkrete Erfahrungen im Umgang mit solchen Bauvorhaben wurden auf dem jüngsten Kongress der Hafentechnischen Gesellschaft (HTG) in Lübeck in Gestalt von zwei fundierten Vorträgen präsentiert.
Der Berliner Flughafen, die Elbphilharmonie in Hamburg oder das Eisenbahnprojekt Stuttgart 21: Das sind drei konkrete, republikweit bekannte Vorhaben, bei denen es auch um reichlich Ärger ging und weiterhin geht. Es geht im Kern um aus dem Ruder laufende Kosten, um gesprengte Zeitpläne und auch um Bürgerwut. Für Professor Stefan Leupertz, früherer Bundesrichter und heute Inhaber eines Büros für Baukonfliktmanagement in Köln heißt das dann ganz banal: „Bei komplexen Projekten ist es oft nicht einfach. Der Jurist referierte in Lübeck zum Thema „Streitvermeidung als ökonomisches Prinzip“. Seine Forderung: ein Kulturwandel in der Branche. Heißt: Die Zukunft gehört einer integrierten Projektabwicklung auf dem Bau. Leupertz weiter: „Wir brauchen neue Parameter. Es läuft zu viel schief, und wenn es schiefläuft, dann dramatisch.“ Er schlägt daher vor, ähnlich wie in Australien oder Finnland üblich, dass die Beteiligten eines Bauprojekts von Anfang an gemeinsam an einen Tisch geholt werden. „Wir müssen aus unseren traditionellen Denkstrukturen raus. Partner müssen wie Partner miteinander umgehen. Vernunft sollte der Maßstab sein“, führte Leupertz weiter aus.
Es sei für ihn einfach „unfassbar“, was man an Koordination auf Baustellen alles erleben könne. Ohne durch Voruntersuchungen erschlossene Details und damit sichere Fakten würde man sich schon auf Preise und Zeiten festlegen. „Wer das tut, hat den Spaltpilz schon mit eingeplant“, machte der Jurist deutlich.
Diese Einschätzung wird auch von Prof. Dr. Norbert Gebbeken von der Bundeswehruniversität in München geteilt, der ebenfalls zu diesem Themenkomplex zu den rund 500 HTG-Teilnehmern sprach. Gebbeken wirkt zudem als Präsident der Bayerischen Ingenieurekammer-Bau. „Wenn wir zivilisiert miteinander umgehen, sollte es keine Probleme geben“, meinte Gebbeken. „Wir brauchen eine Qualifizierung der Projektsteuerung“, nennt er seinen Lösungsansatz für Auseinandersetzungen zwischen Planern, Ausführenden und Investoren.
Die Probleme sieht er und belegt das durch eine internationale Studie, die sich nicht nur streng auf den Baubereich bezieht. „Das ist in allen Technologien ein grundsätzliches Problem, und die Digitalisierung ist dabei kein Allheilmittel“, ergänzte er. „Man muss zu Beginn ehrlich sein und darf nicht mit falschen Zahlen arbeiten und unrealistische Zeiträume nennen.“ Das Ergebnis sei klar: „Der Fluch der ersten Zahl.“
Die beiden Experten stimmten darin überein, dass über die drei zu Anfang aufgeführten Großprojekte in der Tat viel berichtet wurde. Tatsache aber sei auch, dass „vieles in Deutschland gut läuft“. „Aber es kommt vor, dass eine Lappalie zum Stillstand einer Großbaustelle führt“, weiß Leupertz aus seinem reichen Erfahrungsschatz zu berichten. Konfrontation sei heute ein Mittel, um Preise nachzubessern. Er fordert daher eine kooperative Vertragsgestaltung und -abwicklung. Planer und Bauunternehmer müssten „integrativ arbeiten“. Und er kritisierte ebenfalls das: „Es werden keine Entscheidungen mehr getroffen.“ Oft herrsche ein Hin und Her über Monate. „Mehrparteien-Alliance-Verträge“ etwa könnten die Beteiligten vereinen. „Alle profitieren, wenn ihr Projekt erfolgreich ist“, sieht Leupertz einen neuen Ansatz.
„Die Frage für die Zukunft muss sein, wie wir am Bau und in der Vorbereitung miteinander umgehen“, meinte auch Prof. Dr. Hans-Heinrich Witte, Präsident der Generaldirektion Wasserstraßen und Schifffahrt des Bundes (GDWS). „Wir wollen bauen und nicht streiten“, stellte er klar. Projekte mit Schwierigkeiten seien zwar allgemein bekannt, aber „es läuft mehr gut, als etwas schiefgeht“, so Witte. Als Beispiel nennt er die Elb-Fahrrinnenvertiefung hin zum Hamburger Seehafen. „Seit wir den Auftrag vergeben haben, läuft es doch“, führte Witte aus. Solche Erfolge müssten Ingenieure auch in der Öffentlichkeit besser vermitteln.
Ein Gedanken, den auch die HTG verfolgt. „Wir müssen die Dinge vom Kopf wieder auf die Füße stellen und auf die grundlegenden Regeln rückbesinnen“, erklärte HTG-Vorsitzender Reinhard Klingen, Ministerialdirektor im Bundesverkehrsministerium. Erfolge müsse man auch als solche präsentieren, dann würden beide Seiten profitieren. Das Verständnis, Projekte gemeinsam zum Erfolg bringen zu wollen, müsse verstärkt werden.
Diesen „Kulturwandel“ müssten in erster Linie öffentliche Auftraggeber anstoßen, macht er deutlich. „Die Politik muss sich klar zu Zielsetzungen bekennen und nicht zum Sklaven von Nutzen-Kosten-Rechnungen machen lassen“, sagt Klingen. „Bei diesen Überlegungen wollen wir uns künftig stärker einbringen“, berichtete HTG-Geschäftsführer Michael Ströh. Denn die Aufgabe sei groß, so Witte: „Es geht um die Erstellung der Infrastruktur.“ tja/EHA