Verstärkter Blick in das Hinterland

Foto: Seehafen Kiel, In Kiel wuchs der Kombi-Verkehr im ersten Halbjahr 2016 stärker als der Gesamtumschlag

Auf dem Kombi-Verkehr-Terminal im Seehafen Rostock zog der Umschlag zuletzt kräftig an , Foto: Thomas Schwandt
Die deutschen Häfen an der Ostsee erleben seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 schwierige Zeiten. Die Folgen einer lahmenden Weltwirtschaft und geopolitischer Zäsuren bremsen den Ostseeverkehr. In dieser Lage rücken die gleisgebundenen Hinterlandanbindungen in den Fokus unternehmerischen Handelns.
Von Krisen geplagte Volkswirtschaften in Südeuropa, gegenseitige Handelssanktionen zwischen der Europäischen Union (EU) und Russland, volatile Güterströme – das schwierige Umfeld, mit dem die deutschen Ostseehäfen seit Jahren zu kämpfen haben, ist von vielen Facetten gekennzeichnet. Substanzielles Wachstum aus dem klassischen Umschlagsgeschäft über die Kaikante zu generieren, will nur noch in geringen Quoten gelingen. Was den Wettbewerb zwischen den Seeumschlagplätzen verschärft. Eine gravierende Koordinatenverschiebung gab es in jüngster Zeit zum Beispiel bei den Papiertransporten von Skandinavien nach Kontinentaleuropa. Der finnische Hersteller UPM lässt seit 2015 seine Ausfuhren in der südlichen Ostsee ausschließlich über den Seehafen Rostock laufen. Das jährliche Volumen von 420.000 Tonnen Papier, das zuvor in Lübeck umgeschlagen wurde, geht jetzt an der Warnow über die Kaikante. Auch aus dem polnischen Hafen Gdynia zog sich UPM zurück, so dass sich in Rostock der Papierumschlag binnen des Jahres 2015 auf 616.000 Tonnen mehr als verdoppelte. Die schwedischen Papier-Exporteure Svenska Cellulosa Aktiebolaget (SCA) und Iggesund Paperboard orientierten sich ebenfalls neu und verlagerten ihren Warenstrom für den deutschen Markt und Zentraleuropa ab Dezember 2015 von Lübeck nach Kiel.
Die Lübecker Hafen-Gesellschaft (LHG) musste denn auch im vergangenen Jahr einen Rückgang beim Güterumschlag von minus sechs Prozent hinnehmen. Vor diesem Hintergrund ragt ein Plus von 10,6 Prozent bei den umgeschlagenen Ladungseinheiten im Kombinierten Verkehr (KV) besonders heraus. 98.000 Einheiten wurden 2015 auf dem LHG-eigenen Intermodalterminal Baltic Rail Gate von mehreren KV-Operateuren, darunter European Cargo Logistics (ECL) und Kombiverkehr, abgefertigt. Diese diametrale Entwicklung zugunsten des KV ist auch in den Seehäfen Kiel und Rostock zu beobachten. Im ersten Halbjahr 2016 wuchs der Güterumschlag an der Förde um lediglich zwei Prozent. Dagegen legte das KV-Aufkommen in dieser Zeit um 5,7 Prozent zu. An der Warnow gab es mit plus sechs Prozent zwar einen kräftigeren Anstieg in der Umschlagsbilanz, aber im Kombi-Verkehr wurde dieser mit einem Plus von neun Prozent noch übertroffen.
Für Jörg Ullrich, den Geschäftsführer von ECL, einer 100-prozentigen Tochter des Lübecker Hafens, kommt dieser Trend nicht überraschend. Seehäfen eigneten sich per se als Partner zur Entwicklung intermodaler Verkehre. Denn sie sind natürliche Konsolidierungspunkte für die benötigten Gütermengen. Die Häfen Lübeck und Rostock beispielsweise würden täglich 2200 beziehungsweise 1000 Ladeeinheiten durchlaufen, Transitladung und lokale Ladung. „Der entscheidende Vorteil für intermodale Verkehre ist jedoch, dass in den Häfen ein direkter Übergang von der Schiene aufs Schiff und umgekehrt möglich ist, ohne zusätzlichen Vor- und Nachlauf auf der Straße“, hob Ullrich auf der diesjährigen Baltic Logistics Conference Ende Mai in Rostock hervor. Die drei leistungsstärksten deutschen Ostseehäfen verfügen über die infrastrukturellen Voraussetzungen für diese Art des Güterumschlags und sind an das internationale Schienennetz angebunden. Aber neben der Erkenntnis, mit dem Kombi-Verkehr einen nachhaltigen Wachstumspfad erschließen zu können, ist den Hafenmanagern auch bewusst, dass die Entwicklung von KV nicht im Selbstlauf geschieht. Lübeck verzeichnete in den ersten sechs Monaten dieses Jahres lediglich 39.000 umgeschlagene Ladungseinheiten, verlor Verkehre an die feste Öresund-Querung. „Entscheidend für die Attraktivität der Seehäfen gegenüber den Reedereien ist die Qualität der angebotenen Hinterland-Verbindungen“, sagt ECL-Chef Ullrich.
Die Häfen haben es in der Hand, etwa das Informationsmanagement zwischen dem Hafen, Reedern sowie Operateuren und Spediteuren zu qualifizieren und besser zu nutzen. „Im Hafen laufen täglich unzählige Daten auf, aus deren Analyse effektive Verbesserungen abgeleitet werden können.“ Zudem haben Häfen die Möglichkeit, unmittelbar Einfluss auf intermodale Hinterlandverkehre zu nehmen. Zunächst gelte es, die vorhandenen Verbindungen und Kooperationen weiterzuentwickeln. Im nächsten Schritt sollten neue Projekte initiiert und umgesetzt werden. Dabei sei es wichtig, die Hafeninfrastruktur auf den Prüfstand zu stellen und bisher ungenutzte Potenziale zu erkennen. Daraus eröffnen sich auch Chancen, eigene intermodale Hinterlandverkehre aufzubauen.
In Lübeck ist dies bereits gelungen. ECL nahm im Oktober 2015 die intermodale Zugverbindung Travemünde - Karlsruhe in Betrieb. Dreimal pro Woche und Richtung pendelt der „Baden Shuttle“ zwischen der Rheinmetropole im Süden und der Ostsee. Im Sommer ist eine neue KV-Strecke zwischen dem Baltic Rail Gate und Nürnberg hinzugekommen. Über Hamburg verbindet der Zug fünfmal pro Woche und Richtung die Frankenmetropole mit Lübeck. Über das Baltic Rail Gate laufen täglich Verkehre nach Hamburg, Duisburg, Karlsruhe, Köln, Ludwigshafen und Verona (Italien). Einmal wöchentlich ist das italienische Novara angebunden.
Mit Norditalien per Schiene verbunden ist auch der Kieler Seehafen. Fünf Zugverbindungen je Woche bestehen nach Verona. Im vorigen Jahr reagierte der Hafen auf die wachsende KV-Nachfrage mit einer Verdichtung des Fahrplans auf die aktuelle Frequenz. In der Folge schnellte 2015 die Zahl der zwischen Kiel und Verona transportierten Ladungseinheiten um 60 Prozent auf 10.000 nach oben. Mit werktäglichen Kombi-Shuttlezügen von und nach Hamburg-Billwerder ist Kiel an das KV-Netz angeschlossen. Dieses Jahr soll erstmals die Marke von 30.000 Einheiten im Kombiverkehr via Kiel erreicht werden.
Auch im Seehafen Rostock wird intensiv daran gearbeitet, das erreichte Niveau im Kombi-Verkehr zu erhöhen und den Umschlag auf dem KV-Terminal zu einer tragenden Säule zu etablieren. Aktuell verkehren pro Woche 34 KV-Züge von und nach Verona, Novara, Hamburg, Karlsruhe, Brno, Duisburg und Wels. Als Volltreffer erwies sich die seit Januar 2015 bestehende Achse nach Duisburg. Im ersten Halbjahr 2016 stieg das Aufkommen auf dieser Strecke um 30 Prozent. Die Rhein-Ruhr-Region wird laut Hafen-Entwicklungsgesellschaft Rostock mbH (HERO) für den Seehafen „ein zunehmend wichtigeres Aufkommens- und Zielgebiet“. Auf dieser Route bietet Rostock acht Abfahrten pro Woche an.
„Wir wollen einzelne Relationen weiter verdichten sowie neue KV-Verbindungen in bisher nicht angefahrene Regionen aufbauen“, blickt HERO-Geschäftsführer Gernot Tesch voraus. Und ergänzt: „Dies erfolgt in enger Abstimmung mit den in Rostock agierenden Fähr- und RoRo-Reedern, mit dem Terminalbetreiber Rostock Trimodal und den Bahn-Operateuren.“ Mitte des Jahres hatte die HERO die Fortsetzung der strategischen Zusammenarbeit mit DB Schenker bis zum Jahr 2024 besiegelt.
Auch ECL-Chef Ullrich sieht es als maßgeblich für den Erfolg intermodaler Transportketten an, eng mit Eisenbahnverkehrsunternehmen zu kooperieren, die über lokales Know-how verfügen. Gleiches treffe auf Reedereien zu. Begleitet wird dieser Prozess von innovativen Lösungen, etwa die Bahn- und Schifffahrtspläne und die Hafenarbeit weitgehend zu integrieren und Datenflüsse zu vernetzen. Die Häfen wachsen in eine neue Rolle hin ein: „Sie werden vom Bereitsteller der Infrastruktur und Umschläger zum Steuerer von Verkeh ren.“