Deutsche Marine wartet auf den „Urknall“

Soll ein letztes Mal groß rauskommen: die „Karlsruhe“, Foto: Arndt

„Erkenntnisse, die für viele von Nutzen sind“ Dr. Alexandra TödtmannFlottillenärztin, Foto: Arndt



Die Deutsche Marine hat einen großen Plan: Sie will herausfinden, welche Folgen für die Schiffsstruktur und die an Bord befindliche Besatzung von einer schweren Unterwasserdetonation ausgehen.
Die Experten sprechen hier von einem „Ansprengversuch“. Die Silbe „An“ des Wortes ist bei diesem auf den ersten Moment etwas abstrakt wirkenden Begriff ganz entscheidend: Denn es wird nicht „gesprengt“, in diesem Fall also ein Überwasserfahrzeug schwerst beschädigt oder gar zerstört, sondern Sprengkörper werden ferngezündet, so dass die Detonationswirkung auf Schiff und Crew mit modernster Sensortechnologie aufgezeichnet und später ausgewertet werden kann. Im Rahmen eines Vor-Ort-Termins im ehemaligen Kieler Marinearsenal wurde am Mittwoch das Gesamtvorhaben umfassend vorgestellt.
Das, was die für den Versuch federführende WTD 71 (Wehrtechnische Dienststelle) aus Eckernförde nunmehr seit Mitte 2017 zunächst akribisch vorplante und in den Folgemonaten mit großer Präzision im Detail auch physisch an Bord der Fregatte „Karlsruhe“ (F 212) umsetzte, hat es in der Geschichte der Deutschen Marine so noch nicht gegeben. Dieser „Ansprengversuch“, der unglücklicherweise auch durch renommierte Presseagenturen wie die DPA auf das falsche und vor allem irreführende Wort „Sprengversuch“ reduziert wurde, soll nämlich wertvolle Erkenntnisse liefern, die den Weg ebnen für ein Mehr an Sicherheit von Schiffsbesatzungen. Also: Wird künftig zusätzliche Schutzkleidung an Bord benötigt? Wie müssen zum Beispiel Gerätekonsolen gestaltet sein, um das Verletzungsrisiko bei Schockwirkung zu verringern und so weiter. Kurzum Fakten, die auch die Schiffszulieferindustrie sehr interessieren.
„Es geht auch um Erkenntnisse, die nicht nur der Deutschen Marine und den Seestreitkräften anderer Nato-Partner dienen, sondern dieses Datenmaterial ist auch für die zivile Schifffahrt von größtem Interesse und Nutzen“, betont Flottillenärztin Dr. Alexandra Tödtmann vom Schifffahrtsmedizinischen Institut der Marine in Kiel-Kronshagen. Sie verweist zum Beispiel auf die boomende Kreuzfahrtindustrie. Denn im Zeitalter sogenannter „asymmetrischer Bedrohungslagen“ sind auch Luxusliner ein potenzielles Ziel für Terroristen.
Doch was würde eine in Schiffsrumpfnähe gezündete Mine an Schäden auf einem Luxusliner bewirken? Niemand weiß es derzeit genau, weil es an praktischen Erfahrungen fehlt, auch wenn vieles inzwischen simuliert werden kann, so Tödtmann.
Hier bietet sich ein Blick über den Tellerand der maritimen Welt hinaus an: So gehören Fahrzeugtests der Autoindustrie oder von Prüfungsorgansiationen wie Dekra oder TÜV seit Jahrzehnten zum Standardprogramm, wenn es um ein Mehr an Sicherheit für die Fahrzeuginsassen geht.
Oder: In den USA wurde im Herbst 2012 der „Absturz“ eines Linienflugzeugs im Rahmen eines Aufsehen erregenden Tests herbeigeführt und umfassend dokumentiert.
Und jetzt die Schiffsseite: In der Geschichte der Marine der Bundesrepublik Deutschland liegen keine Ansprengerfahrungen im großen Stil an einem modernen Kriegsschiff vor. Zwar wurde 1979 vor Kreta der ausgemusterte „Zerstörer Z 1“, ein US-Weltkriegs-Veteran und ein Schiff der Aufbauphase der Bundesmarine, nach umfangreichen Flugkörper-Beschüssen schließlich durch einen Torpedo eines U-Bootes versenkt.
Doch ist diese Aktion nicht mal ansatzweise übertragbar auf das, was die WTD 71 jetzt mit der ausgedienten „Karlsruhe“ vorhat. Ein Kriegsschiff der „Bremen“-Klasse (Klasse 122), von der die Deutschen Marine insgesamt acht Einheiten erhalten hatte. Bis auf die „Augsburg“ (F 213) und die „Lübeck“ (F 214) sind alle anderen Einheiten inzwischen ausgemustert, zum Teil auch schon verschrottet worden.
Im Laufe des Jahres 2017 kam dann die Überlegung auf, das Schiff für einen bis dato einmaligen „Ansprengversuch“ zu nutzen. Aus den Vorüberlegungen wurde dann ein Beschluss. Im Zuge der technischen Vorbereitung wurden auf dem knapp 130 Meter langen und rund 15 Meter breiten Schiff viele Kilometer Kabel verlegt, die wiederum die von den gut 400 installierten Sensoren erfassten Daten aufnehmen und so weiterleiten, dass sie in einem besonderen, auf dem Hauptdeck installierten Daten-Container gesammelt werden können.
Die eigentlichen „Datensammelstars“ an Bord sind jedoch die insgesamt sechs Dummies, die die Mitarbeiter der WTD 71 auf dem Schiff verteilt haben: zum Beispiel auf der Brücke, im Antriebsbereich oder im schiffstechnischen Leitstand. Diese „Kunstfiguren“ sind mit jeweils 80 Sensoren bestückt und sollen damit fast so „empfinden“ können wie Menschen aus Fleisch und Blut. Es sind Sensorpuppen, für die der nüchterne Ingenieur die Kunstbezeichnung „Hybrid III“ erfunden hat. Was bedeutet: Eine Puppe, die 1,72 Meter groß ist und 78 Kilo wiegt. Sozusagen ein Normmensch aus Plastik und Metall.
Dass die „Kunst-Kameraden“ des geplanten Versuchs mit dem Flecktarnanzug des Heeres gekleidet sind und keinen blauen Bordanzug der Marine tragen, zeigt, lässt unmittelbare Rückschlüsse auf ihre Herkunft zu: Sie stammen aus dem Arsenal der WTD 91 (Wehrtechnische Dienststelle für Waffen und Munition), deren Stammsitz das emsländische Meppen ist und die sehr viel für das Heer und die Luftwaffe erprobt.
Die an Bord verteilten Hightech-Figuren haben es nicht nur in sich. Sie gehen auch richtig ins Geld: Rund 350.000 Euro kostet ein solcher Hilfssoldat. Überhaupt lässt sich der Bund den Versuch einiges kosten: „Wir reden von einigen Millionen Euro“, präzisiert Jörg Norrmann, Leitender Technischer Regierungsdirektor bei der WTD 71 in Eckernförde. Neben der gesamten Sensorik und sonstigen Technik musste die inzwischen vollständig „entwaffnete“
„Karlsruhe“ auch umfangreich im Rumpfbereich bearbeitet werden. So wurden zum Beispiel alle Öffnungen im Bereich des Unterwasserschiffes sorgsam versiegelt, um das Austreten von möglichen Restschadstoffen im Zuge des Versuchs auszuschließen. Und vieles mehr.
Gerade die Wirkung der Schockwellen auf die kleine „Restbesatzung“ in Gestalt der sechs Dummies ist von besonderem Interesse. Flottillenärztin Tödtmann erläutert: „Uns liegen zwar Erfahrungsberichte zum Beispiel aus dem Zweiten Weltkrieg vor. Doch das Material ist für die Entwicklung von neuen Schutz – und Sicherheitskonzepten an Bord von Marineschiffen bestenfalls nur noch bruchstückweise nutzbar. Wir haben es im Falle der „Karlsruhe“ aber mit einem vergleichsweise modernen Kriegsschiff zu tun.“
Denn das Bedrohungsszenario der Gegenwart und auch Zukunft sieht anders aus als vor über 70 Jahren. Etwa so: Eine Fregatte der Marine patrouilliert in den Küstengewässern des Libanon. Dabei wird in ihrer unmittelbaren Nähe durch Terroristen ohne Vorwarnung ein minenähnlicher Sprengkörper gezündet. Die Folgen für Schiff und Besatzung? Mit hoher Wahrscheinlichkeit Verletzte, gut denkbar aber auch Tote, in jedem Fall ein hoher Sachschaden.
Ein abstraktes Modell? Keinesfalls, wie die US-Navy leidvoll erfahren musste. Deren Lenkwaffenzerstörer „USS Cole“ wurde beim Bunkern im Hafen von Aden am 12. Oktober 2000, von Terroristen mit einem Sprengboot attackiert. Ergebnis: 17 Tote und 39 Verletzte sowie hoher Sachschaden.
Für WTD-Fachmann Norrmann ist der geplante Versuch in jedem Fall „eine Investition in die Zukunft“. Es gehe um Erkenntnisse für ein Mehr an Sicherheit für die Besatzungen und die Standfestigkeit des Schiffes, damit es weiter seinen militärischen Auftrag erfüllen kann.“
Der Großversuch, bei dem Sprengladungen unterschiedlicher Stärke in Schiffsnähe gezündet werden, soll nach den WTD-Vorstellungen im Übungsgebiet Schönhagen bei Damp durchgeführt werden. Ein Sondergebiet, das die Bundeswehr seit 1961 für Waffenerprobungszwecke ausdrücklich nutzen darf. Begleitet werden soll der Versuch von einer umfangreichen Flotte aus Hilfsfahrzeugen, einschließlich eines leistungsstarken Seeschleppers. Ganz oben steht auch das: So viel Rücksichtnahme auf die potenziellen Schweinswale wie möglich. Im Rostocker Marinekommando ist dazu sogar ein eigener Walexperte beheimatet, der im Rahmen des Versuchs umfangreiche Vorarbeiten nur zu diesem öffentlichkeitssensiblen Aspekt beisteuerte. Und: Nach dem Versuch würde die „Karlsruhe“ wieder nach Kiel verschleppt, wo dann im besonders geschützten Bereich des Arsenal-Hafenbeckens zum Beispiel der Antriebsbereich gestartet werden soll.
Auch wenn alles optimal vorgeplant ist, es gibt ein großes Problem: das Kieler Umweltministerium, aktuell geführt durch den Grünen-Politiker Jan Philipp Albrecht. Und der steht auf der Bremse, weil er einen Interessenkonflikt mit dem Umweltschutz im Allgemeinen und dem Schutz sensibler Schweinswalbestände, Uferseeschwalben oder auch Dorsche im Besonderen erkennt. Folge: Der eigentlich schon für das Frühjahr geplante Ansprengversuch, sozusagen der „Urknall“ für die Flotte, wurde zunächst auf den Oktober verschoben. Aktuell wird kein neues Datum genannt.
Die Vertreter der verschiedenen mit dem Versuch befassten Bundeswehrdienststellen sind um ein Höchstmaß an Sachlichkeit bemüht und betonen nach allen Regeln der Diplomatie das „gute und vertrauensvolle Verhältnis“ zum Kieler Fachministerium. Das aktuelle Szenario verkürzt wiedergegeben, heißt: Man spricht miteinander, es sollen weitere Spezialgutachten erstellt werden. Das kostet Zeit.
Auch das wurde in Kiel klar: Es gibt derzeit keinen Plan „B“, sollte es kein Einvernehmen mit dem Kieler Umweltministerium geben. „Wir hoffen aber, dass wir alle Bedenken durch Fakten aus dem Weg räumen können“, gibt Norrmann zu Protokoll. Bis dahin dümpelt die „Karlsruhe“ weiter im Arsenal-Hafen still vor sich hin und dient als dankbarer Landeplatz für die vielen Möwen in der Kieler Förde. EHA