Maritime Wirtschaft erfindet sich neu

Die Branche vernetzt sich. Einige Player kommen bei dem hohen Tempo nicht mehr mit, Foto: Fotolia
Die Digitalisierung spaltet die deutschen Reedereien in eine Branche mit zwei Geschwindigkeiten.
Das ist das zentrale Ergebnis der diesjährigen Branchenstudie von PricewaterhouseCoopers (PwC), die das Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsunternehmen am Dienstag in Hamburg vorgestellt hat. Die Analysten hatten 105 Entscheider deutscher Hochseereedereien zur aktuellen Bestandsaufnahme und Zukunftsthemen befragt.
Dabei stellte sich heraus: Jede zweite deutsche Reederei ist bereits stark von der Digitalisierung betroffen. Für den Kurs der Seeschifffahrt bleibt die Digitalisierung in den kommenden Jahren ein zentrales Thema. Gut vier von fünf deutschen Reedern gehen davon aus, dass Online-Anwendungen für die Kunden bald selbstverständlich sind. 84 Prozent der Befragten erwarten, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis beispielsweise Schiffstransporte über Online-Portale gebucht werden können. Dass die Reise dorthin längst begonnen hat, zeigt das Beispiel der im Juni 2016 gestarteten digitalen Spedition Freight Hub (thb.info 20. Februar 2017). Dass in wenigen Jahren Charterverträge in hohem Maße über Plattformen im Internet abgeschlossen werden, meinen immerhin 53 Prozent der Befragten.
Bei allen Chancen für mehr Effizienz sehen die Player aber auch Risiken. Die bereits oft angesprochene Cyberkriminalität, wie sie zuletzt beim Angriff auf Digitalsysteme von Marktführer Maersk zutage trat, ist dabei nur einer von mehreren grundlegenden Punkten. Die Rechtsunsicherheit etwa bei der Erhebung, Auswertung, Nutzung und Weitergabe von Daten ist ein weiterer. Und nicht zuletzt stehen die Reeder durch fortschreitende Digitalisierung und Vernetzung neuen Kontrahenten gegenüber, die bei vielen Zukunftsthemen die Nase vorn haben: Immerhin jeder vierte Branchenteilnehmer ist mittlerweile der Ansicht, dass Amazon, Google & Co. künftig mit Schiffen unter eigener Flagge auf den Weltmeeren unterwegs sein werden oder zumindest die Datenhoheit innehaben – und damit das entscheidende Instrument, um sich im Markt zu behaupten. Zum Vergleich: Bei der PwC-Befragung vor einem Jahr hielten es nur zwölf Prozent der Befragten für denkbar, dass digitale Player, die bislang keine Schnittpunkte mit der maritimen Wirtschaft hatten, in der Schifffahrt Einzug erhalten. Ein anderes Thema bereitet den Reedern derzeit aber noch viel mehr Sorgen: Die Hälfte der Befragten glaubt, dass die zunehmende Verbreitung des 3D-Drucks die weltweiten Warenströme verändern und verringern wird. Das wiederum hätte zur Folge, dass die Entwicklung des weltweiten Hafenumschlags künftig deutlich weniger als bislang an die Entwicklung der Weltwirtschaft gekoppelt wäre.
Branche der zwei Geschwindigkeiten
Bislang sehen sich die befragten Reeder in durchaus unterschiedlicher Intensität vom digitalen Wandel erfasst. Während die Digitalisierung in den vergangenen fünf Jahren in der einen Hälfte der Unternehmen starke oder sogar sehr starke Veränderungen ausgelöst hat, sieht sich die andere Hälfte bislang weniger stark oder gar nicht betroffen. „In großen Teilen der maritimen Wirtschaft hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Digitalisierung auch vor der Seeschifffahrt nicht haltmachen wird“, sagte Claus Brandt, Leiter des Kompetenzzentrums Maritime Wirtschaft bei PwC. „Viele Unternehmen erkennen und nutzen bereits die Chancen, die etwa GPS-Tracking und eine digitale Logis tik bieten.“ Auf der anderen Seite wähnten sich aber noch immer zu viele Unternehmen in der trügerischen Sicherheit, dass die Digitalisierung an ihnen vorbeiziehen wird und sie ihre Geschäftsmodelle unverändert beibehalten können. Es sei auffällig, das sich größere Reedereien im Schnitt wesentlich stärker mit der Digitalisierung befassen als kleine und mittelständische Unternehmen. Dabei würden sich In ves toren durchaus unabhängig von der Unternehmensgröße engagieren, wenn das Konzept stimmt. Doch hier greift ein viel grundlegenderes Problem: bestehende Altlasten aus Zeiten, als das KG-Modell den Markt mit schier unbegrenzten Kapitalströmen flutete. Von der 2008 praktisch über Nacht eingesetzten Ebbe, die bis heute andauert, haben sich insbesondere die kleineren Player nicht erholt (siehe Kommentar).
Die bisherigen Erfahrungen der Unternehmen mit der Digitalisierung haben in der PwC-Studie offenbar gro ßen Einfluss auf die Beurteilung der weiteren technologischen Entwicklung. Nur 16 Prozent der Befragten insgesamt halten die Digitalisierung für überbewertet. Bei den Unternehmen die sich bislang nur geringfügig von der Digitalisierung betroffen sehen, liegt der Anteil allerdings bei 30 Prozent.
Neue Geschäftsfelder erobern
Weitgehend Einigkeit herrscht unter den Reedern darüber, dass sie sich mittelfristig neue Geschäftsfelder erschließen müssen (71 Prozent). Unternehmen, die sich selbst eine hohe Digitalkompetenz bescheinigen (57 Prozent der Befragten), verfolgen dabei wesentlich aktivere Strategien als die Befragten, die sich selbst eher weniger gut für die Digitalisierung gerüstet sehen (43 Prozent der Befragten). So wollen 29 Prozent der Unternehmen mit hoher digitaler Kompetenz eine Führungsrolle als Kopf einer Transportkette mit anderen Lo gis tikdienstleistern erobern. Eine vergleichbare Funktion trauen sich hingegen nur sieben Prozent der weniger digital-affinen Unternehmen zu. „Viel wird davon abhängen, welche Unternehmen sich in den nächsten Jahren digital und damit zukunftssicher aufstellen können“, ist Claus Brandt überzeugt. „Der Plattformeffekt, den wir schon jetzt in anderen Industrien beobachten, könnte auch in der Schifffahrt zum Tragen kommen. Größere Reedereien wären dann im Vorteil, weil sie über mehr Daten verfügen.“ Eine eigene mobile Tracking-App wollen 21 Prozent aller Befragten betreiben, 62 Prozent haben das nicht vor, 17 Prozent haben diese Frage für sich noch nicht beantwortet. Den Betrieb eines eigenen Buchungsportals planen 11 Prozent, für eine eigene mobile Buchungs-App können sich 12 Prozent begeistern.
Die relative Führungsstärke der vergleichsweise gut auf die Digitalisierung vorbereiteten Unternehmen zeigt sich auch darin, dass sie seltener einen Zusammenschluss mit Wettbewerbern planen, um ein größeres Leistungsspek trum zu offerieren. 39 Prozent aus dieser Gruppe haben entsprechende Pläne, während es bei den weniger digital-affinen Reedereien mit 47 Prozent fast die Hälfte ist. Ebenfalls auffällig: Nur in Ausnahmefällen wollen Reeder mit hoher digitaler Kompetenz den Anteil eigener Schiffe in der Flotte verringern. Hier sind es 7 Prozent – gegenüber 18 Prozent seitens der für die Digitalisierung weniger gut gerüsteten Unternehmen. fab
Ein Kommentar von Wolfhart Fabarius
Die Branche ist zweigeteilt. Auf der einen Seite die Reedereien, die aufgrund ihrer Größe und Marktrelevanz an frisches Kapital kommen, weil sie sich neue Finanzierungswege erschließen konnten. Auf der anderen Seite die Player, die nach wie vor mit dem Wegfall des KG-Modells im Neugeschäft hadern, weitere Altlasten bewältigen müssen und den Kopf gar nicht freihaben für an sich drängende Zukunftsthemen. Ausbleibende Investitionen in Digitalisierung sind also weniger einer Frage des Wollens als vielmehr des Könnens.
Die Lektüre der PwC-Studie dürfte vor allem Schiffsmaklern Sorgenfalten auf die Stirn treiben. Deren Rolle wird nach Einschätzung von nur 22 Prozent der befragten Reeder wichtiger – und für 43 Prozent unwichtiger. Je mehr branchenfremde Technologieunternehmen den Markt erobern, desto weniger maritimes Know-how wird abgerufen, weil Algorithmen den Ablauf bestimmen, desto weniger Personal wird dann letztendlich auch benötigt. Man kann diese Entwicklung kritisieren, man muss sie in jedem Fall kritisch hinterfragen, aufzuhalten ist sie jedoch nicht. Die Branche ist umso mehr gefordert, bei der Weiterentwicklung an einem Strang zu ziehen.