Neue Technologie im Meer zur Erzeugung von Energie

Die Ozeane stecken voller Energie: Allein an Europas Küsten könnten aus der Meeresströmung 48 Terawattstunden pro Jahr gewonnen werden.

Dieses gigantische Potenzial verpufft bislang jedoch so gut wie ungenutzt. Das wollen Ingenieure nun ändern – auch mit Hilfe spezieller Lösungen der schwedischen SKF-Gruppe.

In Deutschland stammten vergangenes Jahr rund 52 Prozent des erzeugten Stroms aus fossilen Energieträgern. Und Frankreich setzte zu 80 Prozent auf die Kernspaltung. Demgegenüber deckt Norwegen schon jetzt mehr als 98 Prozent seines Energiebedarfs aus Wasserkraft. Und Schottland will in drei Jahren seinen gesamten Strom aus erneuerbaren Energien gewinnen. Der Frage, wie sie ihr eigenes Wasserkraft-Potenzial optimal nutzen können, gehen die Schotten unter anderem hoch oben an ihrer Nordküste auf den Grund – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: Im „Pentland Firth“ haben sie in einem ersten Schritt vier 1,5-Megawatt-Gezeitenturbinen auf dem Meeresboden installiert. Aus diesen Anfängen soll im Zuge des „MeyGen“ genannten Projekts das größte Gezeitenkraftwerk der Welt hervorgehen. Drei der vier dortigen Pilot-Turbinen hat Andritz Hydro geliefert, ein weltweit führender Anbieter von elektromechanischen Systemen und Serviceleistungen für Wasserkraftwerke.

Der Standort des Projekts ist mit Bedacht gewählt: MeyGen liegt in einer vergleichsweise flachen Meerenge („Inner Sound“) zwischen dem nordschottischen Festland und der Insel Stroma – und damit zugleich zwischen Atlantik und Nordsee. An dieser Stelle erzielen die Gezeiten Strömungsgeschwindigkeiten von gut 3,5 m/s. Das klingt nach wenig, aber weil Wasser rund achthundertmal dichter ist als Luft, werden hier enorme Kräfte frei.

Um diesen Antriebskräften und Maschinenbelastungen zu widerstehen, müssen die dort abgesetzten Unterwasser-Installationen entsprechend robust sein. So wiegen allein die elf Meter langen Gondeln der Andritz Hydro-Turbinen rund 130 Tonnen; mit Nabe, Rotorblättern und Verbindung zum Unterbau sind es 200 Tonnen. An der Spitze der Gondeln rotiert ein dreiflügeliger Propeller mit einem Durchmesser von 18 Metern. Auf dessen Rotorfläche wirken durch das mit 13 Stundenkilometern strömende Wasser Kräfte ein, wie sie an Land durch einen Orkan mit etwa 350 km/h entstünden. Um den wechselnden Gezeitenströmen und den Wasserturbulenzen gleichermaßen zu widerstehen, werden die Verstellwinkel der Rotorblätter ständig über Blattlager mit Antrieben geregelt und die Gondeln der Strömungsrichtung angepasst.

Angesichts der enormen Anforderungen, die dieser spezielle Standort an die zu installierende Technik stellt, war Andritz Hydro von Anfang an klar, dass auch die Lagerungssysteme und die Hauptwellenabdichtung in den Turbinen höchsten Ansprüchen genügen müssten. Aus diesem Grund hat sich das Unternehmen starke Partner an Bord geholt – darunter SKF und den tschechischen Getriebespezialisten Wikov MGI, in dessen Produkten ebenfalls diverse SKF-Lösungen stecken.

Robuste Lager für lange Wartungsintervalle

„Der zuverlässige Betrieb muss ebenso gewährleistet sein wie die hohe Leistung der eingesetzten Technik“, betont Carsten Herrmann aus der Konstruktionsabteilung von Andritz Hydro in Ravensburg, der Fertigungsstätte der Turbinen. Denn die „Hightech-Wasserräder“ sollen mindestens 25 Jahre überstehen und nur alle fünf Jahre gewartet werden, weil Serviceeinsätze auf hoher See schwierig, risikoreich und kostenintensiv sind.

Umso wichtiger war es, dass die Firma schon bei der Auslegung der Rotorwellenlagerung, der Berechnung der Nutzungsdauer, bei den dynamischen und statischen Kräfte-Berechnungen sowie bei der spezifischen Ausführung der Lager Unterstützung durch die SKF-Experten einholte. „Beispielsweise wurde die Rotorwellenlagerung so konzipiert, dass die extrem hohen Axialkräfte aus dem Wasserstrom sowie ,parasitäre‘ Biegemomente aus den Rotorblättern gut über die Hauptwelle mit Wälzlagern auf den Maschinenträger abgegeben werden“, berichtet Markus Stäblein als zuständiger Ingenieur der technischen Beratung bei SKF in Schweinfurt. Die Hauptwellen- sowie Blattlagerung wurde genauestens simuliert – mit der SKF-Berechnungssoftware „SimPro Expert“ (inklusive Berechnungen gemäß Finite-Elemente-Methode zur Verformung der Gesamtkonstruktion). Dank der frühen Einbindung der Technischen Beratung in die Planungs- und Konstruktionsphase konnte SKF für Andritz Hydro Großlager entwickeln, die für die besonderen Anforderungen im starken Gezeitenstrom an der schottischen Nordküste bestens gewappnet sind.

Zu den Herausforderungen im Inner Sound gehört neben der Strömung und dem permanent hohen Wasserdruck in etwa 30 Metern Tiefe natürlich auch der Salzgehalt des Meerwassers samt erhöhter Korrosionsgefahr. Um solchen Bedingungen trotzen zu können, sind seetaugliche Dichtungen erforderlich, wie sie bei der SKF Marine GmbH in Hamburg entwickelt und hergestellt werden. Für die Hauptwelle zum Rotor wurden deshalb besonders robuste Gleitringdichtungen vom Typ „Carboplan Tidal“ eingesetzt, die speziell für diese Anwendung konzipiert wurden. „Die hoch verschleißfesten Dichtringe aus Siliziumcarbid werden über Jahre einen sicheren und wartungsarmen Betrieb ermöglichen“, so Lars Ziemen, Entwicklungsingenieur bei SKF Marine.

Im „Innenleben“ der Turbinen überträgt die langsam laufende Rotorwelle das extreme hohe Antriebsmoment an ein spezielles Getriebe von Wikov MGI. Dieses zeichnet sich durch zwei Planetenstufen mit patentierter „Flex-Pin“-Technologie (mit flexiblem Planetenbolzen) aus, die für eine bessere Lastverteilung aller im Eingriff befindlichen Planetenräder sorgt und dadurch eine kompaktere Getriebebauform erlaubt. Die Zuverlässigkeit dieses Leistungsverzweigungs-Getriebes wiederum hängt zu einem Großteil von den insgesamt 16 Kegel- und Zylinderrollenlagern ab, die aus den Schweinfurter SKF Werken stammen. „Mit ,SimPro Expert‘ haben wir also auch das Systemverhalten von Lager, Welle und Gehäuse eingehend untersucht. Und auf Basis der Erkenntnisse aus diesem ,virtuellen Teststand‘ Lösungen entwickelt, die eine maximale Traglast mit einer hohen Leistungsfähigkeit kombinieren“, so Matthias Hofmann aus der Technischen Anwendungsberatung Meeresenergie bei SKF. Darin flossen unter anderem auch Erfahrungen mit brünierten Rollenlagern ein, die vorrangig in der Windindustrie eingesetzt werden: Dank deren Beschichtung lässt sich das Risiko von Schlupfschäden minimieren.

Ins kalte Wasser geworfen

Ende vergangenen Jahres ist die erste Gezeitenströmungsturbine von Andritz Hydro ins knapp zehn Grad kalte Wasser abgelassen worden und nahm ihre Arbeit auf. Inzwischen sind ihr zwei weitere gefolgt. Die ersten Ergebnisse der Gesamtkonstruktionen mit Getriebe, Dichtungen und Lagern in der schottischen Nordsee sind vielversprechend: Im August erzielte MeyGen mit 700 Megawattstunden einen neuen Weltrekord für diese Art von Gezeitenkraftwerken, obwohl zu diesem Zeitpunkt nur zwei der insgesamt vier Turbinen in Betrieb waren (die anderen erhielten gerade „Upgrades“).

Wenn es so weitergeht, haben die Gezeitenturbinen gute Chancen, sich gegen konkurrierende Energiequellen durchzusetzen. Die Schotten jedenfalls planen, bis zum Jahr 2022 insgesamt 269 Exemplare im Inner Sound zu versenken – mit dem Ziel, genügend Strom für 175.000 Haushalte zu produzieren. Das wäre ein Durchbruch im Bereich der erneuerbaren Energien.

Der schwedische Konzern SKF hatte 2013 vom Finanzinvestor Star Capital den Maschinenbau der Hamburger Traditionswerft Blohm+Voss übernommen. Der Umsatz erreichte 2016 rund acht Milliarden Euro mit weltweit 46.000 Beschäftigten. FBi

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